Eigentlich heißt der Workshop ganz anders und eigentlich geht es erst um 10 Uhr los, doch die ersten Teilnehmer*innen (es gibt tatsächlich einen Teilnehmer) sitzen bereits seit kurz nach Neun im liebevoll aufgebauten Stuhlkreis oder haben sich einen ersten Kaffee eingeschenkt oder stehen sinnierend und noch etwas scheu am Fenster – das wird sich schnell ändern! Ich bin noch am organisieren, die Bühne aufbauen und Material schleppen und muß kurz schlucken, als ich kurz vor zehn in einen fast vollen Raum komme.
Wir sind zu zweit: Ute Becker und meine Wenigkeit. Ute war eine meiner wichtigsten Lehrerinnen in der Anfangszeit. Bei ihr lernte ich das authentische Spielen und entdeckte die Wahrheit, mit nichts anderem auf der Bühne zu sein als man selber. Der Satz, mit dem sie mich damals flashte, lautete: „Geh’ mit Nichts auf die Bühne.“ Man kann keine gute Clownslehrerin und kein guter Clownslehrer sein, ohne an dem Menschen interessiert zu sein. Alle meine Clownslehrer haben immer extrem ganzheitlich, empathisch und wertschätzend gearbeitet – Ute ist dafür ein Paradebeispiel.
Wir starten ganz traditionell mit einer Einführungsrunde (die Alternative wäre eine körperliche oder gedankliche Einstimmung à la Peter Paul gewesen) und jeder erzählt was zu sich, und ich mache mir fleißig Notizen – es kommen einige schöne und ausdrucksstarke Sätze zusammen, mit denen wir nachher weiterarbeiten können.
– „Ich muss Sachen verkaufen doch keiner will hören!“
– „Ich muss immer eine Sache beiseite schieben und zur nächsten eilen.“
– „Ich bin der Guru in unserer Abteilung und müsste schon goldene Löffel klauen…“
– „Ich halte einen Vortrag vor 60 Leuten und keiner hört zu 🙁 “
– „Ich muss mich für einen Umzug rüsten.“
Bei meiner eigenen Vorstellung verhaspele mich, weil ich mir nichts zu mir selber zurecht gelegt habe und das Ende nicht finde. Vor lauter Nervosität vergesse ich zu erzählen, was ich in der Bibliothek mache 🙁
Bruno ganz aufgeregt vor dem Seminarraum
Ute erläutert die Figur des Clowns auf der Flipchart – super, berührend und ganz existenziell. Ich bewundere ihre Authentizität, sie hat unglaublich viel Wissen und schöpft aus zig Jahren Erfahrung. Ich behaupte mal, dass es zur Zeit keine bessere Fortbildung zu diesem Thema in NRW gibt (und für Bibliothekare nicht in Deutschland und nicht in der Welt und nirgends sonst ;-)))
Dann leite ich den Begrüssungskreis im Stehen und überlege für einen Moment, es wie Moshe zu machen, verwerfe es dann aber. Erden, Atmen und Humor in jede Situation einladen würde auch hier gut passen, aber es erscheint mir zu früh (für die Teilnehmer und für mich). Wir stellen uns mit einer Bewegung und unserem Namen vor – das klappt prima, alle machen mit, allen fällt was ein, und alle haben Spaß beim Nachmachen.
Danach laufen wir durch den Raum: Ute bereitet es gut vor, mit Erden und Spüren. Der Raum ist zu groß für 10 Personen, es gibt eigentlich zu wenig Begegnungen (was besonders bei den Begegnungen beim übertriebenem Gang deutlich wird). Ute schiebt spontan das Gestaltgebet ein, wir sind sehr gut in der Zeit, und es paßt gut.
Bei der 1-2-3-Skulptur-Übung an gibt zwei Dreier- und eine Vierergruppe. Ich mache es mit Ute und einer Teilnehmerin vor. Ich habe Freude, die Gruppen genau zu beobachten und lasse es lange laufen, es entstehen sehr schöne Bilder und die Skulpturen beeindrucken mich durch Kreativität und Spielwitz. Wir kommen schnell durch und machen eine frühe Kaffeepause, während der sich die Teilnehmer – was denn sonst – um die ausgelegten Bücher drängen.
Nach der Pause mobilisiert die geniale AuJa!-Übung die Energien für die Reise ins Innere Kind. Unter ruhiger Musik leitet Ute die Teilnehmerinnen an, sich auf eine Geburtsreise aus einem Ei zu einem undefinierten Wesen, das die Welt wie ein Kind erkundet: alles ist neu, unbekannt, und wird erforscht. Jeder bekommt eine Clownsnase und schließlich entdeckt man auch die anderen „Wesen“. Schnell kommen alle ins Spiel, es bilden sich Gruppen, die den Auftrag erhalten, die Welt gemeinsam zu erkunden. Aber von wegen „erkunden“ – Es wird stattdessen frei drauf los gespielt! Das macht sehr viel Spaß und fast alle sagen nachher, dass sie sich in einem freien Spielfluss befunden hätten, ohne Nachdenken über den nächsten Schritt, eins ergab sich automatisch aus dem anderen. Manche staunten da über sich selber, da sie sonst immer genau nachdachten, bevor sie etwas machen.
Zwei, dreien dauerte die „Geburt“ zu lange, sie konnten sich nicht reinfinden oder nichts mit dem inneren Wesen anfangen. Dann ist noch erstaunlich viel Zeit bis zum Mittagessen, so dass wir eine Feedback-Runde zwischen schalten, was gerne und ausgiebig genutzt wird.
Nach dem Mittagessen geht mit einem Überraschungschor wieder los: Die Bühne war schon aufgebaut, jetzt kommen Stühle für das Publikum dazu. Die erste Gruppe geht vor die Tür und bekommt die Instruktion „Bruder Jakob“ auf einem Chorwettbewerb zu singen, kurz vorher hätten sie aber im Lotto gewonnen. Entsprechend schwungvoll tritt der Chor auf! Dann neue Instruktion: jetzt ist kurz vor dem Auftritt das Chormaskottchen, ein Meerschweinchen gestorben. Es wird zum Heulen… Die Zuschauer dürfen die jeweils zugrundeliegende Emotion erraten. Dann wird gewechselt und die Zuschauer können sich nun profilieren. Zuerst singen wir wütend und lustlos, weil die Jury korrupt ist und sich bereits für einen Gewinner entschieden hat, dann haben wir kurz vor dem Auftritt ein Aphrodisiakum im Imbiss gehabt … Alle haben Spaß dabei. Ganz erstaunlich ist, wie bisher zurückhaltende Teilnehmer aus sich herausgehen und sich auf der Bühne präsentieren.
Jetzt tun sich die Teilnehmer zu zweit zusammen. Einer bekommt einen Hut, der andere soll ihn klauen. Nach diesen parallel laufenden „Vorübungen“ geht es auf die Bühne. Ich bin gespannt, ob sich die Qualität dort wiederholen lässt oder die unerfahrenen Teilnehmer angesichts des Publikums verkrampfen. Doch weit gefehlt – es entstehen intensive und teils brilliante Spiele. Kein Duo wiederholt sklavisch die Vorübung, es werden neue Wendungen ausprobiert und es wird flexibel auf neue Impulse reagiert. Die Bandbreite der Emotionen reicht dabei von Chaplinesker Leichtigkeit bis zu tiefer Verzweiflung.
Nach einer wohlverdienten Pause, da alle durch dieses intensive Spiel erschöpft sind, starten wir mit den Bibliotheksszenen. Als erstes gibt es ein Verkaufsgespräch der besonderen Art: Eine Teilnehmerin muss zwei Dinge an den Mann bringen, eins, das sie begeistert, und eins, das sie nicht interessiert. Die Käufer wurden zuvor instruiert, das begeisternde Produkt nicht haben zu wollen, stattdessen das uninteressante Produkt unbedingt haben zu wollen 🙂 Es entspannt sich eine spannende Auseinandersetzung ohne „happy end“, da keine Seite bereit ist, von ihren Instruktionen zu lassen. In der anschließenden Feedbackrunde wird deutlich, dass Clownsqualitäten wie Offenheit, Neugier und ‚Dinge anders sehen‘ helfen können, nicht mehr aneinander vorbei zu reden. Eine weitere, intensive Bibliotheksszene mit anschließender Feedbackrunde beschließt den Workshop.